Jesaja 53,4:
Vers | Masoretentext (SCH2000) | Septuaginta (LXX Deutsch) |
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4 |
Fürwahr, er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen; wir aber hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt. |
Dieser trägt unsere Sünden und leidet um unsertwillen. Und wir urteilten über ihn, dass er in Not, unter einem (Unglücks)schlag und im Elend sei. |
Dieser Vers wird heute sehr gerne und oft zitiert. Besonders von oder für Menschen, die Schmerzen haben oder krank sind. Denn Jesus hat unsere Krankheit und unsere Schmerzen getragen. Das sagt aber nur der Masoretentext!
Die Septuaginta verkündet hingegen, dass Er stattdessen unsere Sünden trägt und leidet um unsretwillen! Beides im Präsens, also in der Gegenwartsform, formuliert. Ein weiterer markanter Unterschied zum MT, der alles in der Vergangenheit lässt.
Beim Masoretentext wird der Messias darüber hinaus von Gott geschlagen und niedergebeugt. Nicht so in der Septuaginta, dort wird nur von Not, Unglück und Elend gesprochen - und damit zwischen den Zeilen an Hiob erinnert, der auch unter Not, einem Unglücksschlag und Elend litt, aber nicht von Gott geschlagen wurde, sondern vom Teufel! Wir sehen also in welche Richtung es geht. Die Masoreten vertauschen offenbar Gott mit dem Teufel.
Schauen wir mal, was die frühen Christen dazu sagen.
Klemens von Rom (35-99):
Er trägt unsere Sünden und leidet für uns, und wir glaubten, er selbst sei in Weh und Schmerz und Elend. Aber er ist verwundet unserer Sünden wegen und gezüchtigt ob unserer Missetaten. (Klemens von Rom, Epistula ad Corinthios Erster Brief an die Korinther (BKV), 16. Kap.)
Justin der Märtyrer (100-165):
Dieser trägt unsere Sünden und jammert um uns, und wir meinten, er sei in Mühe, Schmerz und Pein. Aber um unserer Missetaten willen ist er verwundet und wegen unserer Sünden ist er elend geworden; (Justin, Apologia (prima) Erste Apologie (BKV), 50.Kapitel )
Irenäus von Lyon (130-202):
Dieser trägt unsere Sünden und unseretwegen wird er von Schmerzen gequält, und wir meinten, daß er den Schmerzen und den Schlägen und den Qualen verfallen sei. (Irenäus, Erweis der apostolischen Verkündigung (BKV), II. Zweiter Hauptteil, Zweiter Abschnitt, 68.Kapitel)
Origenes (158-255)
Dieser trägt unsere Sünden und duldet Schmerzen um unseretwillen, und wir hielten ihn für einen Mann in Not und in Leiden und in Erniedrigung. Aber er ist verwundet um unserer Sünden willen und zerschlagen wegen unserer Missetaten; (Origenes, Contra Celsum - Gegen Celsus (BKV), Erstes Buch, 54. Kapitel)
Cyprian von Karthago (200-258):
Er trägt unsere Sünden und trauert um uns; und wir dachten, Er sei in Trauer, in Wunden und in Trübsal; aber Er wurde um unserer Übertretungen willen verwundet und um unserer Sünden willen geschwächt. (Cyprian, The Treatises of Cyprian (ANF), Treatise XI, Three Books of Testimonies Against the Jews, Book II, Chap. 13, übersetzt aus dem Englischen)
Erneut ist hier das mittlerweile vertraute Bild zu sehen. Alle frühchristlichen Zeugen, immerhin fünf an der Zahl, der ersten drei Jahrhunderte bezeugen auch beim Vers 4 eindeutig die Botschaft, die uns Gott durch die Septuaginta verkündet: Christus trägt unsere Sünden. Er leidet um unsretwillen. Es ist kein Wort davon, dass der Christus die Krankheiten oder Schmerzen der Menschen trägt und nirgendwo ist die Rede von einem Gott, der den Messias bestraft, niederbeugt und schlägt.
Aber Moment mal!
Zitiert denn nicht auch das Neue Testament Jesaja 53,4?
Ja, es steht im Matthäusevangelium geschrieben:
Als es aber Abend geworden war, brachten sie viele Besessene zu ihm, und er trieb die Geister aus mit einem Wort und heilte alle Kranken, damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja gesagt ist, der spricht: »Er hat unsere Gebrechen weggenommen und unsere Krankheiten getragen«. (Matthäus 8,16-17, SCH2000)
Es sieht auf den ersten Blick so aus, als würde uns der Evangelist Matthäus auf den Prophet Jesaja nach der Version des Masoretentextes hinweisen und ihn bestätigen, denn da steht ja „Krankheiten“ statt „Sünden“ . Tatsächlich gibt uns Matthäus nicht nur an der Stelle Rätsel auf, sondern auch an etlichen anderen, wo er Propheten zitiert, die wir heute nicht mehr kennen oder anders kennen.
Auf den zweiten Blick sieht man dann aber doch eine markante Abweichung vom Masoretentext. Jesaja prophezeite laut Matthäus, dass Jesus „unsere Gebrechen weggenommen“ hat. Doch laut Masoretentext soll er „unsere Schmerzen auf sich geladen“ haben. Das ist ein deutlicher Unterschied, eine ganz andere Aussage.
Historisch gibt es auch was zu bedenken, denn der Masoretentext entstand frühestens 500 Jahre nach Matthäus. Matthäus konnte also gar nicht den Masoretentext zitieren, denn den gab es zu seiner Zeit noch nicht. Aber es gab einzelne Fragmente von hebräischen Texten. So fand man in den Höhlen von Qumran auch verschiedene Versionen des Propheten Jesaja (ich komme darauf gleich noch mal). Manche waren der Septuaginta näher, manche dem Masoretentext. Zweiteres liegt daran, dass die Masoreten ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. einen hebräischen Text rekonstruierten auf Basis alter Textfragmente, die sie noch zur Verfügung hatten. Jesaja 53 war eine solches Fragment. Also ja, Matthäus konnte Jesaja 53,4 aus einem hebräischen Text kennen und zitieren. Aber es war ein älterer als der Masoretentext, mit einer abweichenden Lesart. Und es war ganz offensichtlich nicht die Septuaginta.
Die Frage ist, warum tat Matthäus das, obwohl er sonst in der Regel die Septuaginta verwendete?
Über diese Frage diskutieren heute die Experten und bieten verschiedene Antworten an.
- Die einen meinen, Matthäus hätte den Juden einen Gefallen tun wollen und sei ihnen mit diesem Zitat entgegen gekommen. Aber warum hat Matthäus dann an so vielen anderen Stellen die LXX zitiert anstatt den MT? Wir schrieben bereits über einige solcher Stellen (hier und hier und hier und hier).
- Andere vertreten die Hypothese, dass Matthäus sein Evangelium ursprünglich auf Aramäisch verfasste und daher seine Zitate aus Jesaja ebenfalls auf Aramäisch gewesen wären. Doch dafür gibt es keine Beweise. Sicher ist nur, dass Matthäus eine hebräische Jesaja-Version kannte, die sich vom masoretischen Text unterschied. Auch der Masoretentext war in hebräisch verfasst. Wenn Matthäus also den hebräischen Juden einen Gefallen hätte tun wollen, dann hätte er sein Evangelium auf Hebräisch geschrieben, nicht auf Aramäisch. Und den Juden, die nur Aramäisch konnten (falls es solche überhaupt je gab, denn Griechisch konnte damals jeder), half ein hebräisches Zitat auch nichts. In den Höhlen von Qumran fand man zwei Jesaja-Rollen, eine große und eine kleine. Beide sind auf hebräisch. Die Große Jesaja-Rolle (1QIsaᵃ, ca. 125 v. Chr.) ist älter, vollständiger, und weist auffallende Übereinstimmungen mit der Septuaginta auf. Die Kleine Jesaja-Rolle (1QIsaᵇ, ca. 50 v. Chr.) hat weniger Abweichungen vom Masoretentext und gilt daher als protomasoretischer Text. Aber eigentlich geht es in diesem Beitrag ja um das Griechische Matthäusevangelium. Darum spielen Überlegungen von wegen Aramäisch in Wahrheit überhaupt keine Rolle. Matthäus schrieb auf Griechisch, das ist fix.
Es muss also einen anderen Grund geben, weswegen Matthäus an der Stelle nicht die LXX zitiert, sondern eine hebräische Jesaja-Rolle. Wir wollen nicht spekulieren, sondern uns an Fakten halten. Fakt ist, dass an der Stelle nur der Text der hebräischen Version passt. Denn es geht bei Matthäus ausschließlich darum, dass Jesus Kranke heilte. Von Sünde ist hier keine Rede. Und das kann auch schon der ganze Beweggrund von Matthäus gewesen sein. Es zeigt wieder einmal, dass die Apostel flexibel waren und je nach Kontext die passende Quelle zitierten.
Hat damit Matthäus den Masoretentext bestätigt und geheiligt?
Mitnichten! Denn er zitierte nur den unumstrittenen ersten Teil des Verses nach einem hebräischen Text, der sich deutlich vom Masoretentext unterscheidet, wie bereits erwähnt. Das ist ein Beweis, dass damals andere hebräische Lesarten bekannt waren als der Masoretentext uns heute vermittelt - und alle Bibeln, die sich auf ihn verlassen.
Ja und den problematischen zweiten Teil des Masoretentextes, wonach der Messias von Gott geschlagen und niedergebeugt wird, hat Matthäus sowieso komplett weggelassen. Aus gutem Grund, denn der widerspricht der wahren Lehre und vermittelt ein falsches Bild von Gott und Christus. Aber dass Jesus unsere Gebrechen weggenommen und unsere Krankheiten getragen hat, ist genauso wahr, wie dass Er unsere Sünden trägt. Jesus heilte Krankheiten. Niemand im NT stellt das in Frage. Es ist ein Fakt und daher passt die hebräische Version von Jesaja, die Matthäus zitiert, in diesem Zusammenhang gut. Noch wesentlicher ist aber, dass Jesus unsere Sünden trägt. Das formuliert die LXX in der Gegenwartsform und tut Jesus also immer noch. Es ist die geistliche und heilsbringende Erfüllung des Prophetenwortes, das uns aber nur die Septuaginta überliefert. Übrigens sahen die frühen Christen jede Sünde geistlich betrachtet als Krankheit. Und so schließt sich der Kreis. Der Ursprung aller Krankheit ist die Sünde und Sünde ist eine Krankheit.
Matthäus überliefert uns hier also nur den ersten Teil des Verses in Bezug auf Gebrechen und Krankheit, nach dem Wortlaut eines hebräischen Textes, aber nicht des Masoretentextes. Den zweiten, antichristlichen Teil des Verses nach dem Wortlaut des MT überliefert Matthäus nicht. Daher gibt es leider keinen Punkt für den Masoretentext, aber 5 klare Punkte für die Septuaginta.
Somit steht es 20:0 für die Septuaginta nach dem vierten Vers.